“Ein Integrationsmärchen”
– Hatices Erfolgsgeschichte
Ich war in der 2. Klasse, als mich meine Lehrerin nach vorne rief und fragte, was das Wort “blind” bedeutet. Prompt antwortete ich: “Na so was wie dumm.” Das Wort hatte ich nur in einem negativen Zusammenhang gehört und mir die Bedeutung salopp zusammengereimt. Ich brauche es vermutlich nicht zu erwähnen, aber ich habe einen Migrationshintergrund. Zwar bin in Deutschland geboren, hatte aber kein “passendes” Umfeld um die deutsche Sprache zu lernen.
In der fünften Klasse waren meine Noten so schlecht, dass meine Eltern nur enttäuscht den Kopf geschüttelt haben. Welche Chance hatte ich denn, wenn ich die Hälfte des Unterrichtsmaterials nicht verstand, weil mir die Sprachkenntnisse fehlten? Meine Lehrer sagten bei jedem Elternsprechtag: “Sie ist ein intelligentes Mädchen, sie muss sich nur mehr Mühe geben.”
Und dann kamen die Sommerferien und alle meine Freunde flogen mit ihren Eltern ins Heimatland. Ungefähr zur gleichen Zeit hatte meine ältere Schwester eine Bücherreikarte beantragt und nahm mich gelegentlich mit. Wir stöberten stundenlang durch die Gänge und suchten uns dicke Märchenbücher aus. “Wir Kinder aus Bullerbü” und “Märchen aus 1001 Nacht”. Die ganzen Sommerferien haben wir mit Lesen verbracht.
Auch nach den Sommerferien ging das so weiter. Ich wollte kaum etwas anderes tun – und nach kurzer Zeit verbesserten sich meine Noten enorm. Ich konnte mich besser ausdrücken, den Unterricht besser mitverfolgen. Im Jahr darauf bin ich auf eine weiterführende Schule gegangen, Jahre später habe ich mein Abitur gemacht. Derzeit studiere ich im letzten Semester Ingenieurwesen. Meine ältere Schwester hat ihren Leistungskurs in Deutsch gemacht und hat einen Master Abschluss erworben. Wir stehen beide mit beiden Beinen fest im Leben und genießen es, vollwertige Mitglieder der Gesellschaft zu sein. Dafür kann ich nur all den kreativen Köpfen danken, die diese Bücher geschrieben haben.
Nun möchte ich sogar mein eigenes Buch veröffentlichen.